ID+ | Ein Interdisziplinaritätsmodell


Ziel

Immer mehr wissenschaftliche Forschungsprojekte sind heute interdisziplinär angelegt und immer mehr Förderprogramme für Forschung fordern interdisziplinäre Arbeitsweisen explizit ein. Diese Entwicklung ist der Beobachtung geschuldet, dass sich komplexe Probleme häufig nicht befriedigend monodisziplinär lösen lassen und daher disziplinär heterogenes Wissen zusammenkommen muss

Das Interdisziplinäre Labor Bild Wissen Gestaltung der Humboldt-Universität zu Berlin hat sich aus diesem Grunde 2012 aus Wissenschaftlern aus über 40 Disziplinen konstituiert, um grundlegende Gestaltungsprozesse in den Wissenschaften zu erforschen. Neben den Geistes-, Natur- und Technikwissenschaften und der Medizin sind zum ersten Mal in der Grundlagenforschung auch die Gestaltungsdisziplinen Architektur und Design einbezogen. Im Interdisziplinären Labor kommen dadurch Disziplinen zusammen, die bisher kaum oder gar keine Berührungspunkte zueinander hatten. Diese Formen experimenteller Interdisziplinarität müssen ihr Funktionieren erst erproben, gemeinsame Ziele finden, Kommunikationskanäle etablieren und Divergenzen produktiv machen. Ziel ist es, so zu innovativen Ansätzen und neuen Perspektiven zu kommen, die sich erst aus dem Diskurs der Disziplinen miteinander ergeben.

Daneben wird aber auch im Interdisziplinären Labor diese besondere Form einer erweiterten interdisziplinären Kollaboration selber erforscht. Die zugrundeliegende wissenschaftliche Aufgabe richtet sich darauf, die Funktionsweisen und Formen von Interdisziplinarität forschend zu erproben und experimentierend zu analysieren. Die resultierenden Arbeitsfelder sind umfangreich, da es ausgesprochen viele heterogene Ausprägungen interdisziplinärer Strukturen gibt. Dieses Spektrum liefert eine Vielzahl von Perspektiven und methodischen Ansätzen. Diese experimentellen Projekt- und Wissenskonstellationen stellen dadurch besondere Herausforderungen dar in Bezug auf ihre strukturierte Erfassung, multiperspektivische Beschreibung und Analyse im Sinne einer projektbegleitenden Metaforschung. Diese ist das zentrale Erkenntnisinteresse der Autoren dieser Publikation, die als Teil des interdisziplinären Labors in diesem und über dieses arbeiten. Ziel der Forschung ist die Erzeugung einer übergreifenden Theorie und ein generelles Verständnis für Formen von Interdisziplinarität.

Das Autorenteam hat dazu das ID+Modell entwickelt. Dieses Modell legt wesentliche Faktoren und Kategorien zur Beschreibung von interdisziplinären Kollaborationen fest und definiert, wie diese zur Modellierung konkreter interdisziplinärer Situationen genutzt werden können. Die Anwendung des ID+Modells erzeugt dann konkrete Diagramme, die zur Analyse spezifischer interdisziplinärer Konstellationen und Prozessen geeignet sind. In diesem Sinne ist das ID+Modell in einem ersten Schritt als ein Analyseinstrument zu verstehen, welches methodisch definierter Beschreibungsmöglichkeiten bereitstellt, um konkrete Situationen untersuchen, vergleichen, beobachten und kommunizieren zu können. Die so entstehende formalisierte Beschreibung fokussiert dediziert auf Faktoren, die für Interdisziplinarität besonders relevant sind. Ebenso lässt sich das Modell auch für die Simulation und den Entwurf von interdisziplinären Kollaborationen benutzen und wird dadurch zu einem Gestaltungsinstrument.

Der Bedarf für das ID+Modell ergibt sich aus der Tatsache, dass die beobachtbare Funktionsweise verschiedener Projekte im Interdisziplinären Labor sehr stark differiert und sich nicht allein auf die beteiligten Disziplinen reduzieren lässt. Wenn Interdisziplinarität aber mehr ist als die Summe der beteiligten Disziplinen, dann sind Kenntnis und Verständnis aller relevanten Faktoren essenziell für ihren jeweiligen Erfolg.

Das ID+Modell soll über dieses konkrete Interesse hinaus aber auch einen Beitrag zur aktuellen Open Science Debatte leisten. Es ist die Überzeugung der Autoren, dass gerade Wissenschaft nicht nur ihre Ergebnisse, sondern genauso auch die Prozesse der Entstehung dieser offenlegen sollte. Die Faktoren für das Zustandekommen von Wissen sind wesentlich für die Gestalt des Ergebnisses verantwortlich und als solche wesentlicher Teil des Ergebnisses. Aus den Prozessen und Umständen der Wissenserzeugung können andere Forscher Ergebnisse ganz anders einschätzen, reproduzieren, Qualität sicherstellen, anders interpretieren und vor allem für eigene Ansätze lernen. Bessere Wissenschaft ist in diesem Sinne eine transparentere Wissenschaft in Bezug auf ihre tatsächlichen Arbeitsweisen. So, wie heute an vielen Stellen die Forderungen lauter werden Algorithmen und Rohdaten, die den publizierten Ergebnissen zugrunde liegen, umfassend offenzulegen, so sollten auch die Bedingungen ihres Zustandekommens zugänglich sein. Das ID+Modell bietet nun die Möglichkeit, Arbeitsbedingungen relativ einfach zu modellieren und wesentliche Faktoren einer Forschungsarbeit sichtbar zu machen und dieser beizustellen. Davon profitieren sowohl die Autoren in Form einer größeren Sichtbarkeit als auch das Wissenschaftssystem als Ganzes, das insbesondere in interdisziplinärer Forschung immer noch mit viel zu vielen Unbekannten operieren muss.

Der Titel ID+ ist ein Akronym, wobei ID einerseits für Interdisziplinarität und andererseits für Identität steht. Das Plus verweist auf eine Leerstelle, auf das, was darüber hinausgeht, was sich mit der Logik der Disziplinen alleine nicht mehr ausdrücken lässt, aber die Identität von Akteuren in der Forschung wesentlich bestimmt.

Ansatz

Um sich diesem Verständnis möglichst unvoreingenommen zu nähern, wird anhand einer Studie ein deskriptiver Ansatz verwendet, der exemplarisch einen real beobachteten Prozess formalisiert, modelliert und erklärt. Der modellierte Zeitraum erstreckt sich über ein Jahr; in dieser Zeit werden alle wesentlichen Beobachtungen in Form von Situationsbeschreibungen kontinuierlich dokumentiert. Die Studie hat dabei zweierlei Funktionen: Einerseits kann so die verwendete Methode veranschaulicht und auf ihren Nutzen hin geprüft werden; andererseits werden in der Studie wesentliche Faktoren interdisziplinärer Kollaboration erkenn- und analysierbar.

In Anlehnung an einen akteurstheoretischen Ansatz, werden alle diese Faktoren als Akteure und Akteurinnen verstanden: Akteur_innen sind in diesem Sinne nicht nur menschliche Akteur_innen wie Personen, sondern auch nicht-menschliche Akteure wie die verwendeten Methoden und Werkzeuge, die behandelten Themen, die zu bearbeitenden Aufgaben, die Orte, Ereignisse und Organisationen der Kollaboration, die rezipierten und selbst produzierten Quellen, die zur Verfügung stehenden Gelder und Zeiten. Akteur_innen haben eigene Agencies, Beziehungen zu anderen Akteur_innen und bauen Cluster von Akteur_innen auf und wieder ab.

Das ID+Modell orientiert sich an netztopologischen Strukturen, gibt spezifische Akteur_innenklassen vor und macht deren Relationen und Interaktionen transparent. Diese Strukturen können in Diagrammen visualisiert bzw. über die Diagrammerstellung konstruiert werden. Interaktionen und Veränderungen der Struktur erweisen sich dabei als essenziell: Gerade sie offenbaren in der Modellierung auch das Nichtfunktionieren, die Hindernisse und Einflüsse von normalerweise unsichtbaren Hintergrundakteuren. Dabei erweist sich, dass in der Modellierung bestimmte Muster empirisch sichtbar werden, die von typischen Annahmen über Interdisziplinarität abweichen und alternative Handlungsmöglichkeiten zu ihrer besseren Gestaltung aufzeigen. So lassen sich aus konkreten Beobachtungen nach und nach allgemeine Annahmen über Interdisziplinarität bzw. deren spezifische Formen ableiten

Struktur

Aus den Fragestellungen und Zielen ergibt sich folgende Drei-Spalten-Struktur: In der linken Modell-Spalte werden die modellierungstheoretischen Grundlagen erläutert und im Anschluss anhand der Akteur_innen-Klassen konkretisiert. Die Inhalte sind so strukturiert und komprimiert, dass sie in sequenzieller Lektüre als Einführung und in selektiver als Methodennachschlagwerk dienen können. In der mittleren Studien-Spalte werden die 27 relevanten Situationen einer interdisziplinären Kollaboration in Form von chronologisch angeordneten Diagrammen und deren Beschreibung dargestellt. Die rechte Theorie-Spalte versammelt die theoretische Analyse, Kontextualisierung und Interpretation der Studie sowie der Modellierung.

Diese ungewöhnliche Form der Darstellung liegt darin begründet, dass alle drei Spalten kontinuierlich Bezüge zueinander aufweisen, die in einem nichtlinearen und nichthierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Diese Form der Darstellung erlaubt es, Textstellen bzw. Diagramme kontextbasiert nebeneinanderzustellen und so dem Interesse des Lesers entsprechend dynamisch zu rearrangieren. Darüber hinaus demonstriert diese Form auch, dass alle drei Spalten gleich gewichtet sind. Die ID+Modell ist als ein Gesamtgebilde zu verstehen, dessen Teile alle gleichzeitig Gültigkeit haben und dem man sich von unterschiedlichen Seiten nähern kann.

Dementsprechend kann die Lektüre je nach individueller Präferenz in jeder Spalte an beliebiger Position beginnen, um dann bei Bedarf zu springen. Dies ermöglicht ein individuelleres und interaktiveres Lesen und nimmt aktive Lesestrategien, die ohnehin bereits mit Nachschlagen, Springen, Querlesen, Notieren und Rekombinieren arbeiten, in das Publikationsformat selbst auf. Diese Form reflektiert darüber hinaus den Produktionsprozess der Texterstellung besser, da jede der drei Spalten in einem engen Beziehungsgeflecht und Entwicklungsverhältnis zu den anderen steht. Eine lineare Lektüre und Textordnung ist immer noch möglich. Sie ist aber nicht mehr zwingend. Auf einer zweiten Ebene soll so auch dazu ermutigt werden, dass insbesondere interdisziplinäre Publikationen neue, dem Inhalt und Publikum besser entsprechende bzw. experimentelle Wege gehen können, ohne den disziplinär geprägten Publikations- und Diskursformaten entsprechen zu müssen.

Anwendung

Das ID+Modell ist für alle gedacht, die interdisziplinäre Forschung planen, bereits betreiben, ausweiten, besser verstehen oder aktiv verbessern wollen. Diejenigen, die bereits in interdisziplinären Konstellationen gearbeitet haben, wissen um die enormen Schwierigkeiten und Verzögerungen, die entstehen können, wenn Projekte ungünstig strukturiert sind. Dabei spielen viele Akteur_innen eine Rolle, die normalerweise in der Planung nicht berücksichtigt werden, nie für relevant gehalten wurden oder nachträglich hinzukommen. Für den Erfolg eines Projektes ist es aber besonders in nicht-stereotypen, innovationsbezogenen Konstellationen essentiell, diese zu verstehen, aktiv einzubeziehen und im Blick zu behalten. Das ID+Modell stellt das Werkzeug, den theoretischen Unterbau und die praktischen Erfahrungen bereit, um Interdisziplinarität besser verstehbar und planbar zu machen. In diesem Sinne richtet es sich gleichermaßen an Projektplaner_innen und -manager_innen, Berater_innen, und Organisationsleitungen; an Designer_innen, Architekt_innen, Soziolog_innen, Ethnolog_innen und Metafroscher_innen, die Arbeitsstrukturen in Innovationsfeldern analysieren wollen; aber auch Fördermittelgeber_innen, Gutachter_innen und die Wissenschaftspolitik, die erfolgreichere Konstellationen fördern bzw. bestehende verbessern wollen.

Umsetzungen

Das ID+Modell ist bewusst so definiert, dass die Diagrammerstellung mittels verschiedener analoger und digitaler Werkzeuge durchgeführt werden kann. So lässt sich das visuelle Vokabular einfach auf Papier oder an einem Whiteboard ohne zusätzliche Hilfsmittel nutzen. Zur Optimierung der Whiteboardnutzung ist es möglich, die visuellen Akteur_innensymbole zusätzlich als magnetische Elemente zu produzieren, die auf dem Whiteboard beliebig platziert und um angezeichnete Bindungen ergänzt werden können. Eine digitale Alternative stellen beispielsweise die Präsentations-Applikationen Keynote bzw. PowerPoint dar. Durch diese lassen sich die Modellierungen in Präsentationen einbinden, sodass auch ein phasenweiser Aufbau bzw. Animationen möglich sind. Ebenfalls geeignet sind alle vektorbasierten Grafikprogramme wie beispielsweise Adobe Illustrator oder Inkscape. Aber auch visuelle Modellierungswerkzeige wie VUE (Visual Understanding Environment) können genutzt werden. Die topologische Definition unter Verwendung anderer Mittel ist auch mit den Klassen- und Objektdiagrammen der UML (Unified Modelling Language) möglich, die von einer Vielzahl von Programmen unterstützt wird. Eine rein logische Repräsentation schließlich ist mit Ontologiesprachen wie RDF, RDFS und OWL realisierbar, die wiederum die Ausgangsbasis verschiedener Visualisierungsumgebungen sind.

Team

Die Publikation "ID+ Ein Interdisziplinaritätsmodell" wurde erdacht, konzipiert und geschrieben von Michael Dürfeld (Architektur) und Christian Stein (Germanistik, Informatik). Die verwendeten Icons stammen von Anika Schultz (Design). Die technische Umsetzung wurde von Sammy David (Informatik) realisiert. Die Integration der Textbezüge in die HTML-Struktur wurde von Laura-Maria Heinz (Architektur) durchgeführt. Wichtige Hinweise und Korrekturen wurden von Horst Bredekamp (Bildwissenschaft) und Wolfgang Schäffner (Kulturwissenschaft) beigesteuert. Der DFG-finanzierte Exzellenzcluster Bild Wissen Gestaltung hat die Publikation gefördert, Ressourcen zur Verfügung gestellt und so möglich gemacht. Das im Exzellenzcluster Bild Wissen Gestaltung angesiedelte Projekt ID+Lab hat das ID+Modell aufgenommen, weiterentwickelt und für die Erstellung der interdisziplinären Publikationsplattform ID+Stage sowie des Modellierungswerkzeugs ID+App nutzbar gemacht.

DE

EN

MODELL

▶ Inhalt

M1 Akteur_innen

Um eine formalisierte Beschreibung interdisziplinärer Strukturen zu erstellen, definieren wir zunächst elf Faktoren, die dafür besonders relevant sind. Diese Faktoren werden dabei nicht als passive Attribute verstanden, sondern als aktive Akteur_innen, die die Ausgestaltung interdisziplinärer Strukturen dynamisch mitgestalten. Daher werden alle Faktoren im Folgenden als Akteur_innen bezeichnet, unabhängig davon, ob es sich um lebendige Personen, soziale Systeme, physische Objekte, digitale Räume, abstrakte Begriffe, Ressourcen oder dynamische Prozesse handelt. Bei diesen elf Akteur_innen handelt es sich konkret um: Personen, Organisationen, Themen, Methoden, Aufgaben, Quellen, Werkzeuge, Ereignisse, Räume, Zeiten und Gelder. All diese Akteur_innen sind zunächst gleich gewichtet. Sie sind als vorerst noch abstrakte Akteur_innen zu verstehen, die im jeweiligen Modellierungskontext meist spezifiziert und konkret benannt werden müssen. Für andere Beschreibungskontexte können weitere Akteur_innen ergänzt bzw. bestimmte andere herausgenommen werden. Zur Beschreibung von interdisziplinären Konstellationen und Situationen haben sich die hier vorgestellten als geeignet erwiesen.

M2 Klassen und Individuen

In Bezug auf die Akteur_innen muss grundsätzlich zwischen Klassen und Individuen unterschieden werden. Klassen bilden eine abstrakte Menge, die durch gleiche Eigenschaften bestimmt wird. Individuen dagegen sind konkrete Akteur_innen: Die Person "Max", die Quelle "Laboratory Life" oder die Aufgabe "Recherche". Häufig werden Individuen auch als Instanzen bezeichnet. Genau genommen liegt der Unterschied darin, dass Individuen unabhängig von ihrer Klasse existieren und im Sinne einer Klassifizierung dann einer bestimmten Klasse zugeordnet werden. Instanzen dagegen gehen aus Klassen hervor, d.h. die Klasse existiert zuerst und definiert alle Eigenschaften der Instanz. Typischerweise spricht man von Instanzen in der Objektorientierten Softwareentwicklung, bei der Klassen programmiert werden, die dann nach Belieben instanziiert werden können. Im hier behandelten Kontext sprechen wir von Individuen, die im Folgenden als Akteur_innen bezeichnet werden.



M3 Spezialisierung

Neben der Unterscheidung zwischen Klassen und Individuen kann es auf Klassenebene zusätzliche Beziehungen geben. So besteht die Möglichkeit, allgemeinere Oberklassen und speziellere Unterklassen zu definieren, die in einer hierarchischen Beziehung zueinander stehen. Typischerweise weist eine Oberklasse mehrere Unterklassen auf. Eine Unterklasse ist per Definition immer auch ihre eigene Oberklasse, d.h. sie erbt deren gesamte Eigenschaften und Definitionen, fügt jedoch weitere Bestimmungen hinzu. Das Verhältnis von Ober- zu Unterklasse nennt man Spezialisierung. So ist die Oberklasse "Labor-Mitglied" denkbar, welche die Unterklassen "Wissenschaftliche_r Mitarbeiter_in", "Investigator" oder "Studentische Hilfskraft" aufweisen könnte. Ein_e "Wissenschaftliche_r Mitarbeiter_in" ist ein "Labor-Mitglied" und tritt damit als Spezialisierung dieser Klasse auf. Die im ID+Modell beschriebenen Akteur_innenklassen bilden die abstraktesten Oberklassen, die in mehrere Unterklassenebenen unterteilt werden können. Das ›Labor-Mitglied‹ wird so seinerseits zur Unterklasse der abstrakten Akteur_innenklasse ›Person‹. In diesem Sinne können ganze Hierarchiebäume entstehen. Eingeführt werden sollten zusätzliche Unterklassen jedoch nur, wenn die Klassifizierung für den Erkenntniszweck der Modellierung dienlich ist, indem sie eine signifikante Differenz deutlich machen.



M4 Aktual- und Potentialakteure

Bei den Akteuren kann zwischen Aktualakteuren und Potentialakteuren differenziert werden. Aktualakteure sind Akteure, die existieren und bekannt sind. In der Regel handelt es sich bei den modellierten Akteuren um Aktualakteure. Dem gegenüber gibt es aber auch Potentialakteure. Diese sind noch nicht bekannt bzw. noch nicht existent und markieren somit lediglich eine unbesetzte Position, die von einem Aktualakteur besetzt werden kann. Potentialakteure müssen nicht vollständig definiert sein und zeichnen sich durch eine gewisse Offenheit bezüglich ihren Besetzungsmöglichkeiten aus. Ein Potentialakteur kann beispielsweise ein Thema sein, das sich gerade erst bildet und noch nicht konkretisiert ist. Bei einer Stellenausschreibung wäre die gesuchte Person ebenfalls als Potentialakteur zu definieren - Sie ist noch nicht benennbar, kann aber dennoch bereits einige Verknüpfungen aufweisen, die beispielsweise Anforderungen entsprechen.

M5 Bindungen

Alle Akteur_innen können Bindungen zu anderen Akteur_innen aufweisen. Unter Bindungen werden alle Formen von Beziehungen verstanden, innerhalb derer die verbundenen Akteur_innen aufeinander wirken. Wie dies im einzelnen geschieht, wird dann durch die Angabe eines Bindungstypen spezifiziert (siehe M6). In der Modellierung kann es jedoch gelegentlich pragmatisch sein, diese Bindungen zunächst noch untypisiert zu lassen, um auszudrücken, dass überhaupt eine Beziehung besteht, auch wenn noch nicht ganz klar ist, wie sich diese genauer bestimmen lässt. Spätestens in einer zweiten Modellierungsphase sollten die Bindungen dann typisiert werden.

Der verbindlichere Terminus Bindung wird dem der Relation vorgezogen, weil Akteur_innen wesentlich von diesen Bindungen abhängig sind und über diese definiert werden. Je nachdem, welche Akteur_innen eine Bindung aufnehmen, können unterschiedliche Bindungstypen definiert werden. So muss beispielsweise bei einer Bindung zwischen einer Personen-Akteurin und einem Organisations-Akteur spezifiziert werden, ob es sich um ein Gründer_innen-, Mitglieds- oder Gastverhältnis handelt.

M6 Bindungstypen

Eine Bindung wird im Rahmen des ID+Modells verstanden als eine typisierte Verbindung zwischen zwei Akteur_innen, sodass eine Subjekt-Prädikat-Objekt-Struktur entsteht – ein sogenanntes Tripel. Strukturen dieser Art finden sich in verschiedenen Kontexten, beispielsweise im Semantic Web und den entsprechenden Standards wie RDF/RDFS/OWL. Ein Beispiel für eine solche Bindung könnte folgendermaßen lauten: ›Max‹ (Subjekt und als Person ein Personen-Akteur) ›zitiert aus‹ (Prädikat) ›Laboratory Life‹ (Objekt und als Buch ein Quellen-Akteur).

Diese Struktur gilt genauso auch für nichtmenschliche Akteur_innen, z.B.: ›Art as a Social System‹ (Subjekt und als Buch ein Quellen-Akteur) ›hat eine Referenz auf‹ (Prädikat) ›Laboratory Life‹ (Objekt und als Buch ein Quellen-Akteur).

Typisierte Bindungen weisen meistens eine Richtung auf, da sie den_die Subjekt-Akteur_in mit dem_der Objekt-Akteur_in auf eine spezifische Art verbinden. Subjekt- und Objekt-Position lassen sich nicht ohne weiteres vertauschen. In diesem Sinne zeigt die Richtung der Bindung von der Subjektposition auf die Objektposition. In der diagrammatischen Darstellung wird dies durch eine Pfeilspitze angezeigt, die auf das Objekt zeigt. Im obigen Beispiel ist die Richtung der Bindung ›hat eine Referenz auf‹ vom Akteur ›Art as a Social System‹ zu ›Laboratory Life‹. Zu allen Bindungstypen lassen sich Umkehrbindungen formulieren, die die Bedeutung erhalten, wenn Subjekt- und Objektakteur_innen die Position tauschen. Die Umkehrbindung zu ›hat eine Referenz auf‹ könnte also sein ›ist eine Referenz in‹.

Eine Ausnahme bilden symmetrische Bindungstypen, die in beide Richtungen lesbar sind. Ein Beispiel wäre ›kollaboriert‹, das zwei Akteur_innen der Klasse Person verbindet. Diese Bindung ist in beide Richtungen lesbar und daher symmetrisch.

Die Bindung wird wo immer möglich typisiert, so dass das Prädikat des Tripels einem Bindungstyp zugeordnet wird. So lassen sich für die Bindungen zwischen Individuen verschiedenen Akteuer_innenklassen jeweils geeignete Bindungstypen festlegen. Ein Beispiel dafür wäre die Bindung zwischen Individuen der Klassen Quelle und Aufgabe. Diese könnte sowohl den Bindungstyp ›ist Material für‹ als auch den Bindungstyp ›ist Ergebnis von‹ aufweisen. Hier wird deutlich, dass Bindungen typisiert werden müssen, damit ihre Bedeutungen nicht unverständlich werden.

M7 Bindungsstatus

Nicht alle Bindungen sind im Sinne eines aktuell bestehenden Verhältnisses zu verstehen. Genauso wichtig sind Bindungen, die lediglich Möglichkeiten, Bedarfe oder Wünsche darstellen. Solche sich anbietenden, aber noch nicht realisierten Bindungen heißen Potenzialbindungen, im Unterschied zu den Aktualbindungen, die bestehende Verhältnisse bezeichnen.



M8 Bindungswert

Sowohl Aktual- als auch Potenzialbindungen können ein positives als auch ein negatives Verhältnis ausdrücken. Positive Bindungen wirken für die Akteur_innen aufwertend und stärken deren Cluster. Negative Bindungen stellen Belastungen und Antipathie bis hin zur Gegnerschaft dar. Negative Potenzialbindungen bedeuten einen Widerstand der Akteur_innen, diese zu aktualisieren. Negative Aktualbindungen bedeuten, dass eine Bindung besteht, diese jedoch auf einen Widerstand trifft. Eine positive bzw. negative Attribuierung der Bindung kann von den verbundenen Akteur_innen unterschiedlich betrachtet werden, sodass sie für den einen positiv, für einen anderen aber negativ besetzt ist.

M9 Bindungsintensität

Dem Konzept des Clusters folgend können sowohl aktuale als auch potenziale Bindungen zwischen Akteur_innen unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Die Intensität einer Bindung kann dabei unterschiedliche Faktoren berücksichtigen, wie beispielsweise Zeit, Interesse, Abhängigkeit etc. So ist eine Bindung einer Person zu einer Quelle, mit der sie sich sehr lange auseinandergesetzt hat, stärker, als wenn dies nur kurz der Fall gewesen wäre. Großes Interesse erzeugt genauso stärkere Bindungen wie nur rudimentäres. Und die Abhängigkeit einer Organisation wie einem Forschungsprojekt von einem spezifischen Werkzeug kann absolut sein oder eben nur fakultativ. Bindungen können sich aus unterschiedlichen Gründen festigen oder lockern. So kann sich zum Beispiel aus spontanen, vereinzelten Gesprächen ein eigenes, konkretes Forschungsprojekt entwickeln, oder der Auslandsaufenthalt eines Akteurs bzw. einer Akteurin unterbricht eine Projektarbeit. Prinzipiell wirken sich die Dauer des Bestehens, die Aktualität und Intensität einer Bindung stärkend auf diese Bindung aus.

M10 Bindungstransitivität

Im Verbund des Clusters sind die Bindungen selbst nicht isoliert zu betrachten, sondern haben Effekte aufeinander. Ist ein Akteur mit einer zweiten Akteurin verbunden, die wiederum eine starke Bindung zu einem dritten Akteur unterhält, so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der erste Akteur auch zu diesem dritten eine Bindung aufbaut. Gleichermaßen können Bindungen eines Akteurs oder einer Akteurin zu zwei anderen gestärkt werden, wenn diese beiden anderen auch untereinander verbunden sind.

M11 Bindungskapazität

Die Anzahl und Intensität der Bindungen, die ein_e Akteur_in zu anderen Akteur_innen aufbauen kann, sind nicht unbegrenzt. Ein_e Akteur_in verfügt vielmehr über eine Bindungskapazität. Deren Umfang kann sich von Akteur_in zu Akteur_in unterscheiden, ist aber immer limitiert. Die kapazitative Auslastung eines Akteurs oder einer Akteurin wird bestimmt durch die Anzahl der Bindungen und deren Intensität. So kann eine Akteurin beispielsweise viele Bindungen mit geringer Intensität unterhalten oder wenige mit hoher. Die Kapazität eines Akteurs bzw. einer Akteurin ist dafür verantwortlich, wie bindungsfreudig diese_r agiert und wann er_sie Bindungen lockert bzw. löst.

Diese Kapazität für einzelne Akteur_innen zu bestimmen, ist empirisch schwierig und lässt sich selten genau angeben. Besonders in der Analyse von interdisziplinären Konstellationen ist es jedoch hilfreich, auf den Auslastungsgrad der Bindungskapazitäten zu achten, um Überlastungen oder Bedarfe identifizieren zu können. Wird festgestellt, dass bestimmte Bindungen sich lockern, kann dies ein Zeichen für eine überlastete Bindungskapazität sein.

M12 Bindungssichtbarkeit

Bindungen zwischen Akteur_innen sind für andere Akteur_innen unterschiedlich gut sichtbar. So kann es beispielsweise erforderlich sein, eine Akteurin sehr gut zu kennen, um ihre Bindungen zu sehen – oder aber diese sind für jeden offensichtlich. Akteur_innen können die Sichtbarkeit ihrer Bindungen beeinflussen und damit strategisch zur Entwicklung ihres Clusters beitragen.

Ähnlich wie die Bindungskapazität ist auch die Bindungssichtbarkeit schwer empirisch exakt auszumachen. Als Analysekategorie kann es jedoch sinnvoll sein, sie zu berücksichtigen, da die Sichtbarkeit von Bindungen das Verhalten anderer Akteur_innen beeinflusst. So kann eine stark sichtbare Bindung einer Organisation zu einem Thema beispielsweise andere Akteure veranlassen, selbst Bindungen zu einem der beiden aufzunehmen oder aber gerade umgekehrt, sie zu vermeiden. Andersherum kann es sein, dass starke Bindungen gerade nicht sichtbar gemacht werden sollen, so zum Beispiel die Bindung eines Ereignisses an die Akteursklasse Geld.

M13 Skalierung

Die Definition von Akteur_innen erfolgt stets auf einem bestimmten, für das jeweilige Erkenntnisinteresse geeigneten Skalierungslevel. Akteur_innen lassen sich bei einer höheren Skalierung selbst wieder als Cluster darstellen. Ohne die Wahl eines pragmatischen Skalierungsgrads würde der Modellierungsaufwand unüberschaubar. Es ist jedoch möglich, verschiedene Skalierungsgrade in nebeneinanderstehenden Modellierungen zu kombinieren. So kann beispielsweise eine Akteurin ›Organisation‹ als Cluster von Personen, Aufgaben, Themen und Geld modelliert werden.

M14 Cluster

Auch wenn sich immer einzelne Akteur_innen herausgreifen lassen, ist deren funktionale Bestimmung nur über ihren Kontext möglich. Dieser Kontext besteht aus anderen Akteur_innen, zu denen Bindungen bestehen oder aufgenommen werden können. Der hier vorgestellte Ansatz greift dabei bewusst nicht auf den Netzwerkbegriff zurück, der explizit auf bestehende Bindungen referiert, sondern bezeichnet den Akteur_innenkontext als Cluster. Der Terminus Cluster vereint zwei Bedeutungsaspekte, die hier relevant werden: Cluster im Sinne von Verbund referiert auf die bestehenden Bindungen zwischen den Ak-teur_innen, die diese in Summe zu neuen Einheiten verbinden. Cluster im Sinne von Haufen bezieht sich auf die relative Nähe bisher unverbundener Akteur_innen, die sich durch eine Reihe von Potenzialbindungen zueinander konstituiert. Ein Cluster definiert sich somit wesentlich auch über die nicht aktualisierten Bindungen, sprich die bewusst ausgeschlossenen, abgelehnten, abgebauten, Bindungspartner_innen suchenden oder noch nicht konkretisierten Bindungen. Damit inkludiert der Clusterbegriff im hier verwendeten Sinne aktuale und potenziale Bindungen von Akteur_innen und stellt sie auf eine gleichwertige Stufe.

M15 Modellierung und Visualisierung

Prinzipiell lassen sich Strukturen, die nach den hier vorgestellten Modellierungsprinzipien funktionieren, auf verschiedene Arten visualisieren. Die hier gewählte Visualisierungsmethode wurde nach folgenden Kriterien entworfen: (1) übersichtliche Anzahl von visuellen Elementen, (2) gut unterscheidbare Symbol-Farbkombinationen für größtmögliche visuelle Differenz, (3) freie Positionierbarkeit der Elemente, (4) intuitive Verständlichkeit, (5) leichte Erlernbarkeit, (6) flexible Erweiterbarkeit und (7) Kompatibilität mit verschiedenen Werkzeugen. Die hier genutzte Form berücksichtigt alle Kriterien, was auch in verschiedenen Nutzer_innentests bestätigt werden konnte. Auf die Definition von weiteren oder spezielleren Akteur_innenklassen wurde bewusst verzichtet, um die Komplexität nicht unnötig zu erhöhen und den Modellierungsfreiraum nicht zu sehr einzuschränken. Die hier definierten Klassen decken dennoch alle relevanten Akteur_innen ab und schaffen auf oberster Ebene eine Vergleichbarkeit aller auf diesen Akteur_innenklassen basierenden Modellierungen und Visualisierungen.

M16 Person

Unter Personen werden alle natürlichen Personen verstanden. Dazu gehören sowohl die Mitglieder der modellierten Organisation als auch Externe. Es können ebenso anonyme oder unbekannte Personen modelliert werden. Juristische Personen wie Vereine oder Institutionen werden im Gegensatz dazu nicht als Person modelliert, sondern als Organisation.

Personen nehmen typischerweise Bindungen auf zu Personen (Kooperation), Organisationen (Zugehörigkeit), Themen (Interesse), Methoden (Kompetenz) und Quellen (Publikationen).

Personen können mit folgenden und weiteren Attributen beschrieben werden: Name, Geschlecht, akademischer Grad, Vita, Foto.


M17 Organisation

Organisationen sind alle formal definierten Organisationsformen und schließen damit ebenfalls Institutionen ein. Meist sind sie als juristische Person zu verstehen und verfolgen eigene Ziele. Organisationen können z. B. Universitäten, Fakultäten, Institute oder Exzellenzcluster sein, aber auch Vereine, Initiativen, Firmen u. Ä. Aber auch Abteilungen, Projekte, Geschäftsstellen oder Vorstand sind als Organisationen innerhalb einer anderen Organisation zu verstehen. Organisationen können Mitglieder haben, müssen es aber nicht.

Organisationen nehmen typischerweise Bindungen auf zu Personen (Mitarbeiter_in/Mitglied), Themen (Ziel), Geld (Umsatz/Budget) und anderen Organisationen (Kooperation).

Organisationen können mit folgenden und weiteren Attributen beschrieben werden: Name, Rechtsform und Beschreibung.


M18 Thema

Themen sind fokussierte Inhaltsgebiete mit ordnender Funktion bzw. Oberbegriffs- und Schlüsselwortcharakter. Sie können unterschiedlich detailliert angegeben werden und Hierarchien von Ober- und Unterthemen aufbauen. Eine klare Abgrenzung ist in der Regel nicht möglich, Themen geben jedoch Hinweise auf Fokus und Schwerpunkt. Meist lässt sich ein Thema lose mit verschiedenen Disziplinen in Verbindung bringen. Themen werden unabhängig von ihrer hierarchischen Einordnung so allgemein oder spezifisch angegeben, wie sie im modellierten Kontext relevant sind.

Themen nehmen typischerweise Bindungen auf zu Themen (Ober- und Unterthema), Personen (Interesse), Quellen (Bezug), Ereignissen (Fokus) und Organisationen (Auftrag).

Themen können mit folgenden und weiteren Attributen beschrieben werden: Schlüsselwort, Quasi-Synonym, Beschreibung, Definition.


M19 Methode

Unter Methoden werden alle Verfahren zur Erreichung eines Ziels verstanden. Wie einzelne Methoden ausgestaltet sind (ob planmäßig oder nicht, wiederkehrend etc.) hängt davon ab, in welcher Organisation sie verwendet werden. Als Methoden werden gleichförmige oder wiederkehrende Handlungsmuster und Lösungsansätze bzw. Beschreibungsperspektiven verstanden. Methoden können ähnlich wie Themen Hierarchien bilden und sind ebenfalls nicht eindeutig abgrenzbar. Der Unterschied zwischen Themen und Methoden besteht darin, dass über Themen gesprochen wird, während Methoden angewendet werden. Sie werden von Personen angewendet, um Aufgaben zu lösen, Themen zu behandeln oder Werkzeuge zu bedienen. Allgemeine Theorien, die auf spezifische Kontexte angewendet werden können, sind ebenfalls als Methoden aufzufassen.

Methoden nehmen typischerweise Bindungen auf zu Personen (Kompetenz), Aufgaben (Ansatz), Quellen (Verfahrensweise) und Werkzeugen (Eignung).

Methoden können mit folgenden und weiteren Attributen beschrieben werden: Schlüsselwort, Quasi-Synonym, Beschreibung, Definition.


M20 Aufgabe

Aufgaben sind Tätigkeiten, die als zu erledigen verstanden werden und die von anderen Akteur_innen verteilt und ausgeführt werden. Sie können durch Personen (z. B. Vorgesetzte) oder Organisationen vergeben werden, sich aus Ereignissen ergeben oder selbstgestellt sein. Die Bearbeitung der Aufgabe kann durch eine oder mehrere Personen, Organisationen und Werkzeuge erfolgen. Aufgaben können Themen behandeln, Ergebnisse haben und sich auf Ausgangsmaterial (Quellen) beziehen.

Aufgaben nehmen typischerweise Bindungen auf zu Themen (Bezug), Personen (Stellung/Ausführung), Ereignissen (Stellung) und Quellen (Ausgangsmaterial/Ergebnis).

Aufgaben können mit folgenden und weiteren Attributen beschrieben werden: Name, Entstehungskontext, Zweck und Beschreibung, Definition.


M21 Quelle

Quellen sind alle natürlichen und künstlichen Objekte, die für andere Akteur_innen einen Informationswert besitzen und deshalb im modellierten Kontext relevant sind. Quellen können rezipiert oder produziert werden. Es kann sich dabei z. B. um Texte, Bilder, Objekte, Praktiken oder Gespräche handeln, aber auch um Originale, Präparate, Prototypen, Modelle, Skizzen u. Ä.

Quellen nehmen typischerweise initiale Bindungen auf zu Personen (Rezeption/Produktion) und zu Themen (Bezug).

Quellen können mit folgenden und weiteren Attributen beschrieben werden: Name/Titel, ID, Beschreibung, Material, Farbe, Gestalt, Medium und Struktur.


M22 Werkzeug

Unter Werkzeugen werden physische und digitale Werkzeuge verstanden, die in der Regel von Personen genutzt werden, um bestimmte Arten von Aufgaben zu bearbeiten. Die Bandbreite erstreckt sich von rein physischen Werkzeugen wie Hammer, Stift oder Papier über rein digitale Werkzeuge wie Adobe Photoshop oder MathLab bis hin zu Mischformen zwischen physisch und digital wie einem 3D-Drucker oder einer CNC-Fräse.

Werkzeuge nehmen typischerweise Bindungen auf zu Personen (Kompetenz), Quellen (Ausgangsmaterial/Ergebnis) und Methoden (Anwendung).

Werkzeuge können mit folgenden und weiteren Attributen beschrieben werden: Name, Version und Beschreibung. 


M23 Ereignis

Ereignisse sind alle beobachtbaren Geschehnisse, unabhängig von deren Größe, die Effekte auf Akteur_innen im Modellierungskontext haben. In der Regel nehmen Personen an Ereignissen teil oder erfüllen bei diesen spezifische Rollen. Ereignisse haben ein Thema, eine Anfangs- und Endzeit sowie einen Ort. Sowohl eine zehnminütige Besprechung zweier Personen als auch eine mehrmonatige Ausstellung kann ein Ereignis darstellen. Ereignisse können unter Umständen andere Ereignisse enthalten (z. B. Eröffnung einer Ausstellung als Ereignis innerhalb der Ausstellung selbst).

Ereignisse nehmen typischerweise Bindungen auf zu Personen (Teilnahme/Rolle), Räumen (Stattfinden), Themen (Bezug/Zweck), Quellen (Resultat) und Aufgaben (Resultat).

Ereignisse können mit folgenden und weiteren Attributen beschrieben werden: Name und Beschreibung.


M24 Ort

Orte beziehen sich auf physische und digitale Orte, in denen Aktionen und Interaktionen stattfinden können. Physische Orte können in Inklusionsbeziehungen zueinander stehen. So befindet sich ein Gebäude in einer Stadt, eine Etage in einem Gebäude, ein Zimmer in einer Etage und ein Arbeitsplatz in einem Zimmer. Digitale Orte werden meistens toolgestützt produziert. Ein Interaktionsort kann z.B. ein Chat oder eine Videokonferenz sein. Orte sind da modellierungsrelevant, wo sie spezifische Aktionen und Interaktionen ermöglichen oder verhindern, Nähe oder Distanz erzeugen und Dinge sichtbar oder unsichtbar machen.

Orte nehmen typischerweise Bindungen auf zu Ereignissen (Stattfinden), Personen (Arbeitsort), Quellen (Standort) und Werkzeugen (Lagerort).

Orte können mit folgenden und weiteren Attributen beschrieben werden: Name, Nummer, Zweckkennzeichnung, Maße, Materialität und Foto.


M25 Zeit

Zeit wird im ID+Modell als Ressource verstanden, die im Rahmen von Prozessen eingeplant und verbraucht werden kann. Zwei Zeitspannen, die beispielsweise im Sinne eines Kontingents zwei Akteur_innen zugeordnet sind, können sich überlagern, konkurrieren oder aber klar separiert sein. Fehlende Zeit kann unter Umständen mit Modifikation bzw. Inklusion anderer Akteur_innen kompensiert werden: Wenig Zeit für eine Aufgabe könnte dadurch kompensiert werden, dass mehrere Personen die Aufgabe bearbeiten oder Themen ausgeschlossen werden, die mit der Aufgabe zusammenhängen. Verfügbare Zeit wirkt sich vor allem auf die Bindungsintensität aus, aber auch auf ihre Sichtbarkeit. Zeit ist sowohl eine ermöglichende als auch eine limitierende Akteurin, die Bindungen stören bzw. einschränken kann. Für eine Aufgabe kann ein Zeitkontingent zur Verfügung stehen, das die Intensität der Bearbeitung eines Themas vorgibt. Für die Nutzung eines Raumes können ebenfalls Zeiten zur Verfügung stehen oder aber in der Negation dessen Nutzung verhindern.

Zeiten nehmen typischerweise Bindungen auf zu Ereignissen (Termin), Aufgaben (Zeitplan), Geld (Personalkosten), Ort (Verfügbarkeit) und Personen (Auslastung).

Zeiten können mit folgenden weiteren Attributen beschrieben werden: Anfang, Ende, Genauigkeit, Planung bzw. Realität.


M26 Geld

Geld ist Geld. Geld ermöglicht es beispielsweise, Institutionen und Personen zu beschäftigen. Aufgaben können je nach verfügbarem Budget unterschiedlich gelöst werden. Quellen können mit Geld beschafft oder nicht beschafft werden. Geld ermöglicht es, Zeitkontingente für Aufgaben zu schaffen. Geld ist halt Geld.

Geld nimmt typischerweise Bindungen auf zu Organisationen (Umsatz/Budget), Personen (Budget/Kosten), Quellen (Kosten) und Aufgaben (Budget).

Geld kann mit folgenden und weiteren Attributen beschrieben werden: Währung, Betrag, Zweckbindung.

STUDIE

▶ Inhalt

S1 Einführung in die Studie

Im Folgenden wird die Chronologie eines interdisziplinären Projektes dargestellt, das sich im Laufe etwa eines Jahres im Interdisziplinären Labor entwickelt hat. Die Studie beginnt mit einem wissenschaftlichen Workshop, der regelmäßig alle ein bis zwei Monate von den wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen organisiert und durchgeführt wird. Jeder behandelt unterschiedliche Themen, die jedoch alle auf Interdisziplinarität Bezug nehmen. Diese Workshops finden ganztägig statt und dienen als übergreifende Kommunikationsplattform für die über hundert Mitarbeiter_innen.

In der Studie werden in einer Folge von Diagrammen wesentliche Situationen der Projekterntwicklung herausgegriffen und modelliert. Die jeweils dargestellten Cluster von Akteur_innen werden in einem beigeordneten Text erläutert, wobei die konkret genannten Akteur_innen hervorgehoben sind, um die Bezüge zum Diagramm visuell herzustellen. Auf eine wiederholte Benennung der spezifischen Bindungstypen zwischen den Akteuren innerhalb der Diagramme wurde aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichtet. Alle Akteur_innen sind konkret benennbar, in der Darstellung wurden Personen jedoch aus Datenschutzgründen umbenannt.

Für das Layout der Studie war maßgebend, dass sämtliche Diagramme in einer Spalte dargestellt werden, sodass sie einerseits sequenziell lesbar bleiben und darüber hinaus eine parallele Wahrnehmung der theoretischen Beschreibungen ermöglicht wird.

Das für die Studie ausgewählte Projekt wurde nicht bereits im Förderantrag zum Interdisziplinären Labor konzipiert, sondern von einer sich selbst organisierten Arbeitsgruppe entwickelt, die sich statt unter formalen Vorgaben aus intrinsischem Interesse fand, veränderte und erweiterte. Diese hat das Thema Spiel im weitesten Sinne ins Zentrum ihrer Diskussionen und Arbeit gestellt, was sowohl die Kulturtechnik des Spiels, den Homo ludens, Gamification, Serious Games, Game Design als auch Motivationsforschung umfasst, und ist nach dem Zeitraum von einem Jahr in einer festen und operativen Projektgruppe mit Mitgliedern aus sieben Disziplinen gemündet.

Da die Gruppe keinerlei formale Vorgaben einzuhalten hatte, lassen sich an ihrer Entwicklung typische Struktureigenschaften interdisziplinärer Kollaboration besonders deutlich hervorheben. Die Auswahl erfolgte auch im Hinblick auf die Vorannahme, dass sich Erkenntnisse über interdisziplinäre Arbeitsprozesse am effektivsten gewinnen lassen, wenn man sich auf selbstorganisierende interdisziplinäre Prozesse konzentriert, die nicht durch eine vorangegangene Planung vorstrukturiert und kanalisiert sind. Denn so lassen sich der Aufbau von Bindungen zwischen Akteur_innen, deren Wiederabbau bzw. Intensivierung und die Eigenschaften von bestimmten Strukturen unabhängig von einer solchen Vorstrukturierung beobachten.

Im Überblick zeigt die Studie, dass sich bestimmte Akteur_innenkonstellationen stabilisieren und andere lösen. Dabei wirken Bindungen nicht nur auf die Akteur_innen, die sie verknüpfen, sondern ebenfalls auf die Clusterumgebung, da Verdichtungen auch benachbarte Akteur_innen stärker binden und einzelne Auflösungen die gesamte Struktur destabilisieren können. Sie zeigt aber auch, dass Stärkungen und Auflösungen sehr verschiedene Gründe haben können und dabei gewisse selbststabilisierende Faktoren wirksam werden. Deutlich wird erkennbar, wie bestimmte Akteur_innen bemüht sind, ihr jeweiliges Netzwerk in sich stärker miteinander zu verbinden und Leerstellen zu füllen. Es wird ersichtlich, dass Stabilität ebenso die Notwendigkeit voraussetzt, Bindungen auflösen zu können, und andersherum freie Bindungskapazitäten benötigt werden, um neue Bindungen zu etablieren. Ebenfalls wird klar, dass bestimmte Struktureigenschaften Stabilität befördern und andere sie verhindern.


S2 Workshop "Serious Games"


28.03.2013 – Der interdisziplinäre Findungsprozess beginnt mit einem Workshop des Interdisziplinären Labors Bild Wissen Gestaltung zum Thema Spielen in dessen Zentrallabor. Ziel soll sein, die Kulturtechnik des Spiels und mit ihr verbundene Themen wie Gamification, Serious Games, Planspiele und Spielentwicklung als wissenschaftliche Methoden kennenzulernen. Dazu sollen verschiedene Workshop-Gruppen gebildet werden, deren Ziel die Entwicklung eines eigenen Spiels ist.


S3 Workshop-Gruppe


28.03.2013 – Eine der Workshop-Gruppen besteht aus den wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen Dagmar, Arne, Beate und Claudio. Sie trifft sich im Besprechungsraum 2.20. Alle bringen bereits aus der Vergangenheit Vernetzungen mit verschiedenen Akteur_innen mit. So interessiert sich jede_r für bestimmte Themen oder beherrscht eine spezifische Methode. Arne interessiert sich generell für das Thema Ornamentalität und verwendet die Methode Systemtheorie. Dagmar interessiert sich für Kapitalismuskritik.


S4 Themen und Aufgaben


28.03.2013 – Im Rahmen des Teamworks kristallisieren sich neue Themen heraus, die sich aus der Aufgabe und dem mit ihr verbundenen Thema ergeben. Es zeigt sich, dass ein Kooperationsspiel entwickelt werden soll, das die Forschungssituation abbildet. Dafür muss ein Regelsatz erstellt werden. Aus den Themen entsteht eine schriftlich festgehaltene Spielbeschreibung. Was noch fehlt, ist das Spiel selbst, das aus Spielbrett, Figuren und Karten besteht. Dazu muss zunächst ein Entwurf der Spielelemente erstellt werden.


S5 Spielentwurf

28.03.2013 – Noch während des Workshops wird die Aufgabe eines Entwurfs der Spielelemente umgesetzt. Eckehard kümmert sich um die digitale Umsetzung; die Workshop-Mitglieder geben die Anweisungen. Eckehard setzt seine Designmethode ein. Er benutzt das Werkzeug Illustrator, um das Layout des Spielbrett und der Spielsteine zu gestalten. Parallel dazu erarbeiten die Workshop-Mitglieder die Spielkarten. Dabei verzichten sie wegen des Aufwands auf eine digitale Produktion und benutzen stattdessen die analogen Werkzeuge Papier und Stift. Das Layout von Spielbrett und Spielsteinen stellt dann das Ergebnis der Aufgabe dar.


S6 Spielproduktion

28.03.2013 – Im nächsten Schritt geht es an die Aufgabe der Produktion des Spiels. Dazu hat sich Eckehard bereit erklärt, weil er Einziger der Gruppe das Werkzeug Lasercutter beherrscht. Dieses ist nicht mobil; es befindet sich in der Werkstatt. Er verwendet das Layout als Quelle für den Lasercutter und produziert so das fertige Ergebnis der Aufgabe, das Spiel. An diesem Vorgang ist nur eine Person beteiligt, die Aufgabe selbst entstand jedoch in interdisziplinärer Zusammenarbeit.


S7 Spieltestung


04.04.2013 – Eine Woche später finden sich eine Reihe von Personen zusammen, um das Spiel zusammen zu spielen. Die Aufgabe des Testens ist bis dato noch offen. Neben Personen, die das Spiel selbst entwickelt haben, nehmen auch einige andere Interessierte teil und lernen so das Spiel, dessen Konzepte und Ideen und die anderen Mitspieler_innen besser kennen. Im Rahmen des Testens wird das Spiel Coopetition getauft. Das Coopetition-Spiel steht danach zur freien Verfügung und ist im Zentrallabor sichtbar ausgelegt.


S8 Spielpräsentation

01.06.2013 – Die Eröffnung des Interdisziplinären Labors ist ein Ereignis, das zur Präsentation der dort ausgeführten Tätigkeiten einlädt. Es gehört für verschiedene Gruppen dazu, Ausstellungsobjekte zu konzipieren. Die dieser Aufgabe zugeteilten Personen erinnern sich an die Coopetition-Idee und an das damit verbundene Oberthema Spielen. Sie befinden, dass sich daraus ein geeignetes Ausstellungsobjekt erstellen lasse. Die Aufgabe einer eröffnungsgeeigneten Umsetzung teilen sie sich selbst zu und erstellen eine neue Version des Coopetition-Spiels. Diese wird im Zentrallabor des Interdisziplinären Labors während der Eröffnung ausgestellt und erklärt. Sie zieht verschiedene Besucher_innen an, die das Spiel kennenlernen.


S9 Frank und Gerd

20.06.2013 – Im Anschluss an die Eröffnung sind immer noch verschiedene Personen unterschiedlich stark mit dem Thema Gamification, Spielen und Coopetition verbunden. Einer von ihnen ist Frank, dem das Thema von Anfang an besonders am Herzen liegt. Er sucht nach einer Gelegenheit, dieses wieder aufzugreifen; nach einer Quelle, die man erzeugen könnte. Darüber hinaus interessiert er sich für das Thema Produktentwicklung. Das hat er gemeinsam mit Gerd. Der interessiert sich außerdem noch für die Themen Software-Entwicklung und Big Data. Da Frank sich mit Gerd gut versteht, suchen beide nach einer möglichen Aufgabe, die sie gemeinsam angehen könnten und die idealerweise auch die Themen reflektiert, an denen beide hängen.


S10 Wettbewerb Humboldt-Innovation

27.06.2013 – Eine Woche später wird ein Wettbewerb der Humboldt-Innovation ausgeschrieben. Dabei geht es allgemein um das Thema Gründung. Die Konzeption eines Geschäftsmodells soll in einer Pitch-Präsentation vorgestellt werden. Sie wird von einer Jury beurteilt, die aus erfolgreichen Gründer_innen besteht. Für den Wettbewerb sucht dessen Organisator Hans nach Personen, die teilnehmen möchten. Noch ist für einige Teilnehmer_innen Platz. Bei einem zufälligen Treffen im Treppenhaus des Interdisziplinären Labors erzählt er Gerd davon.


S11 Pitch Planet Play

04.07.2013 – Kurz nach dem Gespräch mit Hans lesen Frank und Gerd von dem Wettbewerb der Humboldt-Innovation noch einmal in der Clusterzeitung CZ#. Frank, dem das Thema etwas wichtiger ist als Gerd, fragt diesen, ob sie nicht am Wettbewerb teilnehmen wollen. Beide sind an Produktentwicklung interessiert und suchen ohnehin eine gemeinsame Aufgabe. Daher sagt Gerd zu. Erst kurz vor dem Wettbewerb widmen sich beide der Aufgabe einer Pitch-Präsentation. Ihre Idee stammt auch aus der Auseinandersetzung mit Gamification und aus ihren Diskussionen. Diese fließen unter dem Titel Planet Play in den Pitch ein, der erfolgreich verläuft; mit ihrer Idee gewinnen Frank und Gerd ein Preisgeld von 300 €. Durch dieses positive Feedback wird das Thema für beide wichtiger. Auch bindet es sie stärker aneinander. Für beide steht fest, dass sie sich neue gemeinsame Aufgaben suchen wollen.


S12 Networking

19.08.2013 – Nachdem das Thema Gamification gestärkt wurde, ruht es wieder eine Weile. Frank ist mit verschiedenen Personen auch außerhalb des Themas vernetzt: Mit Claudio ist er im Projekt »Experiment & Beobachtung«. Mit Ingo teilt er das Interesse am Kochen. Mit Gerd verbindet ihn seit dem erfolgreichen Pitch zusätzlich das für beide neue Thema Gründung. Auch Coopetition ist noch präsent und hält die Verbindung zu Eckehard, der maßgeblich an Entwurf und Umsetzung mitgearbeitet hat. Frank möchte das Thema verstetigen und mehr als nur eine Quelle wie den Pitch erzeugen; er will ein regelmäßiges Ereignis einrichten. Das Wie ist ihm noch unklar. Aber er hat ein gutes Netzwerk von Personen. Die stärkere Bindung zum Thema Gamification sorgt dafür, dass Frank diese auch in allen möglichen Kontexten immer wieder erwähnt und Verbindungen dazu im Gespräch herstellt. Damit erhöht sich nicht nur seine Bindung zu dem Thema, sondern auch die Sichtbarkeit dieser Bindung.


S13 Brückenakteur

13.09.2013 – Das Thema Gamification bleibt aber nicht allein für Frank wichtig. Auch Gerd interessiert sich durch die zahlreichen verstärkten Anbindungen inzwischen dafür. In seiner alten Studienstadt Braunschweig trifft er seinen Freund Jens, den er lange nicht gesehen hat. Weil das Thema Gamification ihn jetzt beschäftigt, berichtet er diesem davon. Ganz spontan holt Jens seinen Kollegen Knud dazu, von dem er über das Thema auch schon einmal gehört hat, ohne selbst Näheres zu wissen. Knud interessiert sich für Gamification im Bereich von Planspielen zu politischen Theorien und promoviert darüber. Seit seiner Kindheit entwickelt er Spiele. Momentan sucht er aktiv nach Kompetenz im Bereich Software-Entwicklung, um sein Planspiel ins digitale Medium zu überführen.


S14 Gamifikation trifft Softwareentwicklung

13.09.2913 – Gerd und Knud finden mit Gamification schnell ein gemeinsames Gesprächsthema. Weil Knud einen Zugang zur Software-Entwicklung sucht, erwähnt er diese. Gerd interessiert sich auch dafür und programmiert selbst seit vielen Jahren EDV-Software. Ganz allgemein unterhalten sich beide über die Themen und bauen so eine Beziehung zueinander auf, die durch gleiche Interessen stabilisiert wird. Darüber hinaus zieht Knud Gewinn aus der Tatsache, dass er jemanden mit Kompetenzen in seinem Desiderat Software-Entwicklung gefunden hat.


S15 Bewerbung im bologna.lab

29.10.2013 – Frank will neben der Forschung auch lehren. Er bewirbt sich für ein Seminar im Rahmen des bologna.lab der HU Berlin. Dafür benötigt er noch ein passendes Seminarthema. Diese Lücke ist schnell gefüllt, denn seine Verbindung zum Thema Gamification ist bereits sehr stark geworden, womit sich eine weitere Ausweitungsmöglichkeit ergibt. Er überlegt, dass er durch das Seminar auch selbst noch mehr über Theorie und Praxis lernen kann.


S16 Neuorientierungen

04.12.2013 – Dass Frank das Thema Gamification vorantreibt, hängt auch mit seiner frei werdenden Bindungskapazität zusammen. Die Verbindung zu seinem eigentlichen Basisprojekt »Experiment & Beobachtung« ist schwächer geworden und das Projekt selbst nimmt keine Verbindung zu seinem Thema Gamification auf. Die Identifikation schwindet und Frank sucht sowohl eine neue Organisation als auch eine neue Aufgabe, die besser zu seinem eigenen Cluster passen.


S17 Gamelab-Gründung

31.01.2014 – Nach einem halben Jahr ruft Frank zu einem Treffen zum Thema Spiel auf. Er fragt die Personen, mit denen er ohnehin schon vernetzt ist, ob sie nicht teilnehmen möchten. Einige sagen zu und kommen zum Treffen. Knud nimmt per Skype teil. Mit dem Thema Gamification sind nicht alle gleich gut vertraut. Daher veranstaltet die Gruppe ein Brainstorming dazu, welche gemeinsamen Ziele sie sich setzen könnte und wer welche Interessen verfolgt. Daraus entsteht die noch etwas konfuse Zieldefinition 1, in der sich jedoch alle wiederfinden. Ein konkretes Programm ist noch nicht erkennbar. Die Gruppe beschließt jedoch, sich regelmäßig unter der Bezeichnung Gamelab wieder zu treffen.


S18 Gamelab-Zieldefinitionen

06.03.2014 – Zum nächsten Treffen vier Wochen später kommen nicht alle Personen wieder. Für Ingo und Claudio waren die Anknüpfungspunkte wohl doch nicht stark genug. Schließlich gibt es immer viele Möglichkeiten und Angebote und nur begrenzt Zeit. Dafür sind Mathias und Norbert dazu gekommen. Sie haben noch einmal andere Zugänge und ergänzen gemeinsam mittels des Kollaborationswerkzeugs Etherpad die Zieldefinition. Diese ist inzwischen etwas konkreter geworden, auch weil Teilnehmer_innen mit eher vagen Ideen nicht mehr dabei sind. Mehr und mehr Text sammelt sich an. Außerdem hat das Gamelab jetzt eine eigene Web-Domain. Dort ist zwar noch nichts zu sehen, aber sie trägt zum Stabilitätsgefühl der Gruppe bei. Diese trifft sich weiter regelmäßig. Nicht immer sind alle anwesend, aber sie kommen wieder.


S19 Spielsoftwareentwicklung als neue Aufgabe

31.03.2014 – Als Mitglied des Gamelab denkt Gerd, dass Knud mit seiner Kompetenz im Bereich der Entwicklung von Planspielen wunderbar ins Gamelab passen würde. Er lädt ihn ein, Knud nimmt gerne an und kommt nach Berlin. Aus dem Thema Software-Entwicklung wird in der Überarbeitung der gemeinsamen Zieldefinition die Aufgabe der Spielsoftware-Entwicklung. Das Gamelab setzt sich zum Ziel, das Planspiel von Knud in einer digitalen Version zu realisieren und anhand dessen die vielfältigen Fragen zum Spielen und der Datenerhebung durch Spiele konkret werden zu lassen. Ganz nebenbei wird dadurch auch noch das Interesse Gerds am Thema Big Data gefördert. Daher übernimmt er die Aufgabe der Spielsoftware-Entwicklung. Der Cluster ist jetzt enger vernetzt und damit stabiler geworden.


S20 Seminar "Gamification"

14.04.2014 - Frank bewirbt sich zum Sommersemester 2014 für die Durchführung eines Seminars zum Thema Gamification und erhält die Bewilligung. Das Seminar zieht viele Teilnehmer_innen an. Offenbar hat er ein Thema gefunden, das viele Studierende interessiert. Und das, obwohl sein Engagement auf diesem Gebiet bisher von keiner offiziellen Seite des Interdisziplinären Labors gefördert worden ist.


S21 Personen- und Aufgabensuche


26.05.2014 - Das Gamelab hat bei ihren wiederkehrenden Treffen durch Lektüre und Theorie inzwischen einige Kompetenz im Bereich Gamification aufgebaut. Auch mit Methoden des Gamedesigns sind sie inzwischen schon recht vertraut. Aber sie wollen weiter wachsen und suchen nach Personen, die sie bereichern. Auch suchen sie nach einer Aufgabe, die die Aspekte des Spiels als Kulturtechnik stärker in den Blick nimmt.


S22 WiMi-Workshop "Transversalität"


18.06.2014 – Dann findet ein Workshop wissenschaftlicher Mitarbeiter_innen - WiMi-Workshop - statt, an dem alle Mitglieder teilnehmen sollen. Eine große Anzahl kennen sich, aber nicht alle. Was der_die Einzelne genau macht, weiß man nur von wenigen. Im Rahmen des Workshops wird jedoch die Aufgabe gestellt, Kooperationen zu suchen – direkt vor Ort. Aufgrund dieser Aufgabe beginnen Olga und Frank, da sie zufällig nebeneinander stehen, ein Gespräch.


S23 Eine neue Akteurin


18.06.2014 – Olga ist ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin im Interdisziplinären Labor. Als Medizinerin beschäftigt sie sich in ihrem Projekt »Gesundheit und Gestaltung« mit der Nutzer_innenerfahrung von Patient_innen im Krankenhaus und mit Krankenhausprozessen im Allgemeinen. Sie sucht nach Methoden, um hier Verbesserungen herbeizuführen. Außerdem sucht sie nach Personen, die die Verbesserungen mit ihr umsetzen wollen. Ihr schwebt ein zusätzlicher Förderantrag vor, um ausreichend Geld und Zeit zu haben. Vom Gamelab hat sie noch nichts gehört. Auch hat sie zunächst keine Assoziation zum Thema Spielen.


S24 Nutzer_innen-Erfahrung als neues Thema

18.06.2014 - Dass die Nutzer_innen-Erfahrung in Krankenhäusern interessant sein könnte für das Gamelab, hat Frank bisher nicht gedacht. Und Olga hat nicht daran gedacht, dass Gamification hinsichtlich ihrer Frage Kompetenzen und Lösungen bieten könnte. Im Gespräch zeigen sich langsam Parallelen – unklare noch. Nach einiger Zeit sind sich beide sicher, dass die Themen eine große inhaltliche Überschneidung aufweisen, obwohl sie zuerst nicht danach klangen. Ohne die Aufgabe, aktiv Kooperationen zu suchen, wären sie wohl nicht darauf gekommen.


S25 Das Krankenhaus-Spiel als neue Aufgabe

23.06.2014 – Bei der nächsten Sitzung des Gamelab ist Olga dabei. Sie schildert ihre Ideen und die Zieldefinition wird ergänzt. Ein Konzept zur Verbesserung der Nutzer_innen-Erfahrung in Krankenhäusern mittels Gamification, ein Krankenhaus-Spiel, soll entworfen werden. Olga hat vielversprechende Ideen, wie sie in der Medizinbranche Geld zur Förderung beantragen kann. Geld, das auch dem Gamelab eine finanzielle Grundlage geben kann. Dessen Mitglieder sind begeistert – Knud eingeschlossen, der sich meist per Skype dazu schaltet. Auch er bekommt immer neue Anregungen für seine Arbeit und hofft auf eine Verstetigung des Gamelab - obwohl er dazu in ganz andere Bereiche gerät, die über sein eigenes Planspiel hinausgehen. Die digitale Version des Planspiels lässt sich inzwischen schon spielen und wird jetzt zu einer Multiplayer-Variante ausgebaut, die automatisch Daten erhebt. Das Krankenhaus-Spiel hat die erste Brainstorming-Runde hinter sich und sieht einem ersten konkreten Entwurf entgegen.


S26 Flaute

02.08.2014 – Nach der Ausweitung der Ziele des Gamelab tritt zunächst eine Flaute ein. Konkrete Aufgaben sind noch nicht definiert. Die Organisationsform des Gamelab ist noch nicht in ihren Strukturen gefestigt, sondern eher eine Absichtserklärung. Zudem haben in den folgenden Monaten alle sehr viel zu tun und wenig Zeit. Die Folge ist, dass das Gamelab auf die Teilnehmer_innen weniger verbindlich wirkt und die Bindungen nachlassen. Das Gefühl macht sich breit, dass die Initiative im Sande verlaufen könnte. Die Teilnahme an den Treffen sinkt und die Vorbereitung darauf wird weniger intensiv betrieben.


S27 LunchTalk "gamelab.berlin"

09.12.2014 – Für Anfang Dezember beschließt das Gamelab jedoch, einen LunchTalk zu veranstalten, bei dem die bisherigen Arbeiten und Ideen präsentiert werden sollen. Direkt im Anschluss soll es eine Gamelab-Woche mit Workshops und einer Posterausstellung geben. Dieses konkrete Ereignis mit viel Publikum erzeugt die konkrete Aufgabe der Vorbereitung der Präsentation, der Workshops und der Poster. Mit dem Näherrücken des Ereignisses nimmt auch das Engagement wieder zu. Alle bereiten zu den ihnen nächstliegenden Themen Präsentationsmaterial vor. Für die Vorstellung des Themas Spiel im Allgemeinen wird eine Brücke zu den Themen Bild und Wissenschaft geschlagen, die dem Publikum des Interdisziplinären Labors nahestehen. Da Claudio beim LunchTalk nicht dabei sein kann, bereitet er eine Videoaufnahme vor. Auch wenn der Workshop selbst im Gegensatz zum LunchTalk eher schlecht besucht ist, hat die Initiative die Sichtbarkeit des Gamelab im Interdisziplinären Labor stark erhöht.


S28 Gamelab-Antrag

09.03.2015 – Der LunchTalk hat das Gamelab wieder gestärkt und geeint. Direkt danach wird an einem gemeinsamen Antrag gearbeitet, um Gelder für eigene Projekte zu beantragen. Finanziert werden sollen ein Symposium, die Weiterentwicklung von Decide & Survive und Singleton sowie die Konzeptionierung von spielbezogenen Vermittlungsmethoden für die Clusterausstellung +ultra (30.09.2016 – 08.01.2017, Martin-Gropius-Bau). Der Antrag kommt zur rechten Zeit und basiert auf der bisher erreichten Sichtbarkeit. Der Cluster sucht neue innovative Themen und begrüßt Veröffentlichungen sowie Veranstaltungen. In der Folge werden alle beantragten Mittel von insgesamt 36.600 € bewilligt. Das ist eine Bestätigung der Organisation Gamelab und stärkt die Bindungen zwischen ihr und allen Teilnehmer_innen.

THEORIE

▶ Inhalt

T1 Komplexe Situationen

Die hier vorgestellte Modellierung hat sich aus der Analyse von 28 Situationen aus einem interdisziplinären Kontext entwickelt, sie lässt sich aber auch auf andere Kontexte übertragen. Anhand der hier vorgestellten Studie kann gezeigt werden, dass sich interdisziplinäre Arbeitsweisen durch eine Clustermodellierung gewinnbringend beschreiben lassen. Insbesondere wird deutlich, dass heterogene Akteur_innen und Bindungsformen komplexe Cluster bilden, die sich nicht mehr auf universelle Schemata reduzieren lassen.

So kann der Ort, in dem eine Planungsdiskussion stattfindet, für deren Ergebnis genauso entscheidend sein wie die beteiligten Personen. Eine Quelle kann ein Thema mit einem anderen verbinden. Ein Thema kann eine Methode erfordern oder ausschließen. Eine Aufgabe kann ein kostspieliges Werkzeug erforderlich machen, das von einer Organisation finanziert wird, die wiederum durch diese Investition ihre Aufgaben zukünftig neu definiert. Dass ein Ereignis zu einer bestimmten Zeit stattfindet, ermöglicht oder verhindert die Anwesenheit von Personen , die dort Partnerschaften initiieren könnten. Eine weitere Funktion von Akteur_innen im Allgemeinen ist ihre Fähigkeit, verschiedene Akteur_innen miteinander zu verbinden, die ohne eine solche Brückenaktivität keine Verbindung aufgebaut hätten. Akteure, die diese Funktion einnehmen, werden als Brückenakteur_innen bezeichnet. Fehlende Brückenakteur_innen zwischen Personen können hingegen ganze Projekte scheitern lassen. Die Verwendung desselben Werkzeugs kann Personen aneinander binden, die sich gegenseitig ihre Themen näherbringen, bis auf der jeweils anderen Seite ein eigenes Interesse entsteht. Die Sichtbarkeit einer Bindung wie die zwischen Ort und Person im Sinne eines persönlichen Arbeitsplatzes kann die Raumnutzung durch andere Personen verhindern. Andererseits weist ein persönlicher Arbeitsplatz meist Spuren in Form von Notizen, Büchern oder Plakaten auf und verweist so auf das Thema der dort arbeitenden Person. Anderen Personen wird dadurch ermöglicht, auch in Abwesenheit dieser Person an dessen Thema anzuschließen. Die Unsichtbarkeit einer Bindung zwischen Person und Thema erschwert das Aufnehmen von Kooperationen. Eine starke, über lange Zeit aufgebaute Bindung zwischen Organisation und Thema beispielsweise kann eine vielversprechende, aber noch neue und daher schwache Bindung blockieren. Die negative Bindung einer Person an eine andere Person kann sich auf Akteur_innen, die mit dieser verbunden sind, ausweiten. Bei Überschreitung der Bindungskapazität kann eine Nichterledigung von Aufgaben die Folge sein.

T2 Über die Disziplin hinaus

Diese Beispiele und weitere aus der Studie zeigen, dass interdisziplinäre Kollaborationen aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Situationen bestehen, die durch ein spezifisches Akteurscluster aus konkreten, aussagekräftigen Einzelakteuren und deren spezifischen Bindungen gekennzeichnet werden. Dieser notwendige Detailierungsgrad ist auch der Grund, dass interdisziplinäre Kollaboration sich nicht hinreichend genau über die ausschließliche Benennung der beteiligten Disziplinen beschreiben lässt. Disziplinbenennungen wie Biologie, Physik, Kulturwissenschaft, Architektur oder Informatik sind so große und komplexe Akteurscluster, die keinen differenzierten Aussagewert für die Analyse, Modellierung und Gestaltung interdisziplinärer Kollaborationen haben.

Jede Disziplin umfasst verschiedene Themen, die in Ober- und Unterthemen gegliedert sind; sie verwendet eine Vielzahl von Methoden, die teilweise disziplinspezifisch sind, die sich häufig aber auch in anderen Disziplinen wiederfinden; meist haben sich bestimmte Organisationen wie beispielsweise Institute oder Stiftungen nach einer Disziplin benannt; eine solche Organisation wiederum stellt Orte bereit, organisiert Ereignisse, hat ein bestimmtes Budget und beschäftigt Personen, die diese Disziplin unter Umständen zuvor studiert haben; die Personen wiederum rezipieren und produzieren disziplinspezifische Quellen, verwenden oder erzeugen bestimmte Werkzeuge, nehmen Aufgaben wie beispielsweise Lehre oder Forschung in einer vorgegebenen Zeit und unter Verwendung von dafür geeigneten Räumen wahr und erhalten nicht zuletzt dafür Geld. Mittlerweile ist das Themen- und Methodenspektrum in jeder einzelnen dieser Disziplinen so breit gefächert, dass selbst die Kommunikation innerhalb der jeweiligen Fachgebiete problematisch wird. So kann es vorkommen, dass die Kommunikation zwischen einer Genetikerin und einem Morphologen schwieriger verläuft als die zwischen einer Morphologin und einem Architekten.

Es verwundert daher nicht, dass die Zusammenstellung eines interdisziplinären Teams, die sich lediglich auf der Ebene von Disziplinbenennungen bewegt, wesentliche Akteure unberücksichtigt lässt. Das hier entwickelte ID+Modell verzichtet deshalb bewusst auf die Integration der Disziplinen als Einzelakteure und rückt stattdessen genau diese Vielzahl von Akteur_innen in den Fokus, die für das Gelingen oder Scheitern interdisziplinärer Unternehmungen essenziell sind. Dass den Disziplinen im ID+Modell kein Einzelakteursstatus zugeschrieben wird, bedeutet nicht, dass Disziplinen im wissenschaftlichen Feld generell keine Berechtigung mehr hätten. Vielmehr ermöglicht das ID+Modell interdisziplinäre und disziplinäre Kollaborationen zu vergleichen und genauer in ein dynamisches Verhältnis zu setzen. So ließe sich genauer fragen, worin Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Modi wissenschaftlicher Forschung in Bezug auf Akteursklassen, Akteur_innen, Bindungen, Strukturen und Prozessen liegen. Bezogen auf die Prozesse könnten beispielsweise interdisziplinäre Kollaborationen als ein ständiges Oszillieren zwischen Kopplung und Entkopplung beschrieben werden. In jeder neuen Situation einer interdisziplinären Kollaboration koppeln sich Akteure zu neuen Akteursclustern. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass zunächst und immer wieder von neuem die Akteursindividuen sich ganz grundlegend aus ihren disziplinären Akteursverbindungen und Clustern entbinden. Erst solchermaßen befreit von tradierten disziplinären Clustern bilden sie ein Medium für neue interdisziplinäre Akteurscluster. Durch die Verbindung und Einbindung in diese neuen interdisziplinären Akteursclustern verändern sich die Akteure selbst: Bedeutungen, Funktionen und Wertungen verschieben sich. Diese Transformationen finden nur statt, weil es die disziplinären Differenzen gibt. Sie sind quasi die Motivation, um nach neuen überraschenden Bindungen zu suchen - die Besonderheit interdisziplinärer Kollaborationen ist ihr Differenzgehalt. Interdisziplinarität ist also auf das Vorhandensein von starken Disziplinen angewiesen und kann nicht als deren Ablöser und Nachfolgekandidat betrachtet werden. Andererseits führt Interdisziplinarität auch genau zu einer solchen Stärkung der Disziplinen. Einerseits erhalten die Disziplinen mit den in interdisziplinären Clustern transformierten Akteuren auch für ihre spezifisch disziplinären Kontexte neue Akteure - die Disziplinen erweitern ihr Akteursspektrum. Andererseits ist der Prozess des Entkopplens ein Akt der disziplinären Selbstreflexion: Die Disziplin erkennt ihre eigenen Akteure und deren Geschichtlichkeit und Konstruiertheit. Dieser Prozess darf nicht gering bemessen werden, denn es sind nicht mehr hinterfragte Bindungen zu Akteursclustern, die in disziplinären Kontexten zu Stillstand führen.

T3 Selbstorganisation

Interdisziplinäres Forschen ist kein Selbstzweck, sondern eine Strategie, das Wissen unterschiedlicher Disziplinen nicht allein additiv, wie in multidisziplinären Kollaborationen, sondern synthetisierend zu nutzen. Wie aber muss diese Kollaboration organisiert sein? Können für interdisziplinäres Arbeiten dieselben Rahmenbedingungen ausreichend sein wie für disziplinäres Forschen? In Anbetracht der Unterschiedlichkeit von Forschungspraktiken der verschiedenen Disziplinen ist dies fraglich. Da jedoch jegliches Forschen Rahmenbedingungen und Organisationsstrukturen benötigt, besteht die Strategie des Interdisziplinären Labors darin, eine maximale Förderung von selbstorganisierenden Prozessen innerhalb einer minimalen Struktur zu ermöglichen. Wenn kein sicheres Wissen darüber vorhanden ist, welche Erkenntnisse aus einem Forschungsprojekt generiert werden können und wie dieser Prozess organisiert werden muss, besteht eine Strategie darin, auf Selbstorganisation zu setzen und sich überraschen zu lassen.

In vielen Fällen haben interdisziplinäre Initiativen Organisationscharakter. Eine typische interdisziplinäre Organisationsform ist ein Projekt, eine Abteilung oder auch eine ganze Institution. Häufig sind diese Organisationsformen vorgegeben, d. h. sie sind bereits als interdisziplinär geplant und angelegt. Eine solche vorgegebene Organisationsform sind beispielsweise die Basisprojekte des Interdisziplinären Labors, die bereits zu Beginn konzipiert waren und denen weitere Akteur_innen wie Themen , Aufgaben , Personen , Quellen und Geld zugeordnet wurden. Diese prädeterminierten Cluster enthalten fremdbestimmte Bindungen, die sich durch die beteiligten Akteur_innen nicht ohne Weiteres ändern lassen. Im Zuge der Durchführung einer solchen vorgegebenen Organisationsform konkretisieren sich die Akteur_innen jedoch und bringen damit ihre eigenen Cluster mit ein. Inwiefern diese eigenen Cluster sich dann zu einem gemeinsamen Cluster der Organisation zusammenfügen, ist die entscheidende Frage. So kann festgelegt werden, dass ein_e Vertreter_in einer bestimmten Disziplin an einem Projekt teilnehmen soll. Da die Disziplin die ausgewählte Person jedoch nie vollständig charakterisiert, kommen mit dieser weitere Akteur_innen ins Spiel. Vorangegangene Projekte, aktuelle Interessen, bestehende Kooperationen und andere Aufgaben bestimmen das Projekt von da an wesentlich mit. Dasselbe geschieht mit dem vorgegebenen Projektthema, wenn sich erst in der Konkretisierung enge Bindungen zu anderen Themen zeigen, die wichtige Quellen einbringen. Oder aber der reine Geldwert eines zu Projektbeginn gekauften Werkzeugs bestimmt die Projektmethoden, obwohl andere vielleicht geeigneter gewesen wären. Diese Beispiele verdeutlichen, dass sich der Akteurscluster eines Projektes nicht eindeutig vorhersagen lässt.

Die in der Studie untersuchten Situationen zeigen Akteurscluster, die nicht aus einer vorgegebenen Organisationsform entstanden sind, sondern sich selbstorganisierend entwickelt haben. Damit wird hier auf die Etablierung von Bindungen fokussiert, die sich ohne externe Vorgabe entwickeln oder auch wieder abbauen. Diese Bindungen entwickeln sich anders und in gewissem Sinne freier. Schwache Bindungen können probeweise aufgebaut, aber auch genauso einfach wieder abgebaut werden. Verschiedene Cluster testen so ihre Kompatibilität unverbindlich aus. Dort, wo sich bestimmte Cluster wechselseitig gut ergänzen, können sich starke Bindungen entwickeln, stärker und produktiver, als sie normalerweise planbar sind. Gelingende Interdisziplinarität setzt in der Findungsphase auf relativ lose Bindungen heterogener Cluster. Dies ermöglicht das lockere Aufnehmen, spielerische Erproben und unverbindliche Austesten von Bindungsoptionen, ohne diese sofort strukturell verbindlich zu machen. In einer zweiten Stabilisierungsphase kann es dann hilfreich sein, wenn die so gefundenen Bindungen verstetigt und gestärkt werden, um eine strukturelle Stabilität zu gewährleisten.

T4 Wahrnehmung und Kommunikation

Ein signifikantes Problem in nicht determinierten interdisziplinären Projekten ist die Sichtbarkeit von potenzialen Bindungen. Dadurch, dass die verschiedenen Akteure zunächst noch keine oder sehr schwache Bindungen zueinander aufweisen, sind die potenzialen Bindungen der jeweils anderen Akteure nicht sichtbar. Bindungsintensität kann sich dabei auch verstärkend auf die Sichtbarkeit dieser Bindung auswirken: Je stärker die Bindung zwischen zwei Akteur_innen ist, desto sichtbarer ist sie auch. Die initial schwachen Bindungen erschweren nun jedoch das Auffinden von Akteur_innen, die bereits in verschiedenen Clustern vorhanden sind und eine Brückenfunktion einnehmen könnten. Die Folge ist, dass sich in der Praxis sehr viele interdisziplinäre Bindungen zufällig ergeben (S10, S13, S22). Da nur entdeckte potenziale Bindungen aktualisiert werden können, ist es auch vom Zufall abhängig, ob diese eher gut oder schlecht geeignet sind, um sich zu aktualen Bindungen zu entwickeln. Einen Vorteil haben hier immer Akteur_innen, die stark kommunizieren bzw. die Sichtbarkeit ihrer potenzialen Bindungen erhöhen: Eine Organisation mit guter Öffentlichkeitsarbeit findet leichter geeignete Mitstreiter_innen. Eine kontaktfreudige Person hat eine größere Kooperationsauswahl. Ein sprechender Raum ist eher geeignet, passende Akteur_innen zu finden, als ein indifferent wirkender. In diesem Sinne sind es vor allem Rahmenbedingungen der Sichtbarkeit, die sich auf den nicht determinierten Aufbau interdisziplinärer Kooperationen auswirken: Wo Bindungen und Akteur_innen sichtbar gemacht werden, können geeignetere Bindungen aufgebaut werden.

Sichtbarkeit in diesem Sinne kann erreicht werden durch Vermittelnde, die potenziale Bindungen in Richtung der Cluster kommunizieren, Erhöhung der Sichtbarkeit durch die Akteur_innen selbst, Schaffung von Informationspunkten und allem, was Kommunikation befördert. Es bleibt jedoch das Problem, dass Kommunikation immer auch einen Aufwand darstellt und daher nicht beliebig weit gesteigert werden kann.

Die vorgestellte ID+Methode kann genau hier einen aktiven Beitrag leisten, indem sie Cluster explizit modelliert und so nicht nur eine schnelle und übersichtliche Sichtbarkeit bereitstellt, sondern diese auch auf Brückenakteur_innen hin systematisch analysierbar macht.


T5 Neugierde und Irritation

Neben den potenzialen Bindungen, die sich deutlich zeigen bzw. anbieten (z.B. Bedarfe oder Interessen), gibt es solche, deren Kompatibilität mit einem Akteur_innen-Cluster noch vollkommen unklar ist, da eine Überlagerung bzw. ein Konflikt zu diesem Zeitpunkt nicht abgesehen werden kann. Es existieren zwei Formen solcher unklaren Potenzialbindungen: Neugierde und Irritation. Sie sind tatsächlich in der Potentialbindung zweier spezifischer Akteur_innen zu verorten und nicht in nur einem der verbundenen Akteure. In beiden Fällen geht es um die Exploration von clusterfremden Akteur_innen und um die Evaluierung Anschlussfähigkeit, die dann positiv oder negativ ausfallen kann. Akteur_innen können zwar auch prinzipiell neugierig oder irritiert in ihrem Bindungsverhalten agieren; wenn hier von Neugierde oder Irritation die Rede ist, wird jedoch dediziert auf eine Potentialbindung referiert.

Neugierde bezeichnet offene und suchende Potenzialbindungen. Sie tritt in Situationen auf, in denen Akteur_innen einen Cluster nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft erweitern wollen. Eine solche nicht-kontinuierliche Erweiterung bezieht sich auf die Integration von Akteur_innen, die weder direkt noch über Brückenakteur_innen mit dem bestehenden Cluster verbunden sind und somit zunächst fremd sind. Das hat zur Folge, dass unklar ist, welche Bindungen an welcher Stelle des Clusters überhaupt aufgenommen werden könnten. Neugierde entsteht in interdisziplinären Kollaborationen typischerweise in Situationen mit einem Informationsdefizit, in der beispielsweise eine Akteurin einem Akteur gegenübersteht und zu diesem zunächst keine klare Bindungsmöglichkeit sieht, jedoch eine strukturstärkende Funktion bei ihm vermutet. Vermutungen wie diese erzeugen positiv konnotierte Potenzialbindungen zu verschiedenen Akteur_innen des Clusters. In der Folge werden diese Potenzialbindungen validiert, d. h. auf ihre Stabilität hin überprüft: Der Akteur oder die Akteurin, auf welche_n die Neugierde trifft, wird im Zuge dessen genauer betrachtet und die Bindungen werden geprüft. Je mehr Potenzialbindungen zum Cluster des Akteurs bzw. der Akteurin aufgebaut werden können, desto stärker werden auch die Integrationsmöglichkeiten in den Cluster bewertet. Die Chancen steigen, dass diese Potenzialbindungen in der Folge aktualisiert werden.

Potenzialbindungen wirken sich kaum auf die Bindungskapazität von Akteur_innen aus. Natürlich müssen sie von einem Akteur oder einer Akteurin erst gefunden oder erfunden und immer wieder neu überprüft und dann bestätigt oder verworfen werden. Auch dies benötigt natürlich Zeit und wirkt sich auf die Bindungskapazität aus - jedoch in einem sehr viel geringeren Maße, als wenn sie einmal aktualisiert werden. Der interessante Effekt dessen ist, dass Neugierde die Akteur_innen vergleichsweise wenig Zeit kostet, sofern sie sich der Unterscheidung zwischen potenzialen und aktualen Beziehungen und deren Gewicht im Klaren sind. Ein problematischer Effekt entsteht nur dann, wenn diese Unterscheidung nicht klar gezogen wird und es dadurch zu einer Überbeanspruchung der Bindungskapazität der involvierten Akteur_innen kommt. Neugierde ist damit eine Strategie von Akteur_innen zur Clusterentwicklung, die unterschiedlich stark oder schwach ausgeprägt sein kann und die sich auch aktiv verändern lässt. Und alles dies gilt entsprechend des Akteurmodells auch analog für nicht-menschliche Akteure. Eine Quelle wäre dann beispielsweise als neugierig zu bezeichnen, wenn sie auf eine andere potentiell interessante Quelle verweist, ohne jedoch diese schon umfassend studiert zu haben und damit auch die Gefahr aufsichnimmt, Falsches vermutend zu behaupten. Sicherlich kann der Verweis in der Quelle und damit auch die Neugierde auf den Autor der Quelle zurückgerechnet werden, d.h. auf einen menschlichen Akteur, aber der Verweis und damit die Neugierde ist nun integraler Teil der Quelle und kann auch ohne den Autor operativ tätig werden: Der Verweis in der Quelle wird somit zum Verweis der Quelle. In diesem Sinne lässt sich auch bei nicht-menschlichen Akteuren von Neugierde sprechen - auch wenn diese von Fall zu Fall anders konstituiert ist: Ein neugieriges Messer beispielsweise zeichnet sich durch einen breiten Anwendungsbereich aus - ein Messer ist neugieriger als ein Korkenzieher.

Die Irritation stellt die zweite Form unklarer Potenzialbindungen dar. Im Unterschied zur Neugier ist sie nicht offen und suchend, sondern geschlossen und reaktiv. Eine Irritation tritt beipielsweise auf, wenn eine Akteurin erscheint, die bisher keine Beziehung zu einem anderen Akteur aufweist, diese jedoch aktiv herstellt. Eine solche extern erstellte Bindung stellt zunächst eine Störung im Cluster des Akteurs dar und weist das Potenzial auf, die Struktur zu destabilisieren. Der Akteur ist zur Wahrung der Stabilität seines Clusters gezwungen und muss daher auf die Irritation reagieren. Mit seiner Reaktion baut er in jedem Fall eine Bindung auf, die positiv (integrierend) oder negativ (abwehrend) sein kann.

Es kann dabei vorkommen, dass eine Potenzialbindung aus Neugier initiiert wird, sich diese im Laufe der Exploration jedoch als unerwünschte Irritation erweist. Umgekehrt kann eine Irritation mit Neugier reagieren und das Umfeld der irritierenden Akteurin explorieren und den eigenen Cluster in diese Richtung aktiv weiterentwickeln.

Das Resultat sowohl von Neugier als auch von Irritation kann eine Erweiterung des Clusters sein oder eine klarere Abgrenzung. In beiden Fällen stabilisiert der Cluster seine Beziehung zu seinem Kontext, seine Position in ihr und per Analogie vor allem seine Reaktivität auf zukünftige Impulse clusterfremder Akteur_innen.

Generell kann vermutet werden, dass Akteur_innen, die einen hohen Grad an Neugier-Potentialbindungen aufweisen oder entwickelt haben bzw. verhältnismäßig vielen Irritationen ausgesetzt sind, die Stabilität ihres Clusters in Bezug auf wechselnde Kontexte besser gewährleisten können. Sie bleiben auch dann operativ, wenn viele Veränderungen eintreten. Gleichzeitig bergen zu viele Neugier-Potentialbindungen die Gefahr, dass eine Überbeanspruchung der Bindungskapazität eintreten und eine lähmende Wirkung entfalten kann, die zu einem interessierten Stillstand führt. Zu viele Irritationen können wiederum den Cluster destabilisieren, wenn dieser nicht mehr in der Lage ist, alle Akteur_innen zu integrieren und keine ausreichende Eigenstabilität aufweist. Daher ist es anzunehmen, dass die Anzahl von Neugier-Potentialbindungen mit einem entwickelten und stabilen Cluster wächst und bei einem weniger stabilen Cluster geringer ausgeprägt ist. Dasselbe gilt für den Umgang mit Irritationen, die auf bereits stabile Cluster eher erweiternd und auf weniger stabile Cluster eher bedrohlich wirken.

Um Neugierde und Irritation gezielt als aktive Erweiterungsstrategien einsetzen zu können, ist es somit wichtig, die Cluster der involvierten Akteur_innen zu analysieren. Der Grad an Neugier hängt dabei von der internen Stabilität der einzelnen Cluster ab, der Grad der Irritation vom Umfang ihrer Überlappung. Interdisziplinäre Projekte sind, wenn sie gelingen sollen, naturgemäß stärker von Neugier abhängig und häufiger Irritationen ausgesetzt. Wie so oft ist es schwer, das richtige Maß für beide zu finden und herbeizuführen. Gelingt dies jedoch, kann im Endeffekt eine deutlich gesteigerte Gesamtstabilität erreicht werden.